„Ich wusste, es gab drei Möglichkeiten: entweder ich schaffe es über die tschechische Grenze, oder ich werde inhaftiert, oder schlimmstenfalls erschossen.”
(Mario Warmann, politischer Häftling in der DDR)
Kurzbiografie
Mario Warmann, geb. 1962, wuchs in Lübben auf. Er ging in die Goetheschule (heute: Paul-Gerhardt-Gymnasium), absolvierte seine Lehre zum Maler in der PGH Drei Schilde, und stellte mit 18 Jahren seinen ersten Ausreiseantrag.
Seinen Fluchtversuch unternahm er 1985. Es folgten 3 Monate U-Haft in Cottbus und über 6 Monate Haft in Naumburg, bis er 1986 von der BRD freigekauft worden ist.
Themen
Dokumente/Fotos
- Das Schreiben des Rechtsanwalts Prof. Dr. Vogel an Gerda Warmann, indem er ihr versichert, sich um den Freikauf ihres Sohnes Mario zu kümmern, 24.02.1986.
- Der Entlassungsschein in die BRD vom 14.05.1986.
- Die Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, ausgestellt in Berlin am 07.05.1986.
Transkription
„Mein Name ist Mario Warmann, ich bin in Lübben geboren, bin hier auch zur Schule gegangen, damals in der Goetheschule. Danach habe ich eine Lehre als Maler absolviert in der PGH Drei Schilde. Ich habe schon mit 18 Jahren meinen ersten Ausreiseantrag gestellt, weil ich mit den politischen Verhältnissen nicht klar kam. Und dann wurde ich mehrere Jahre bespitzelt, bis es dann 1985 zu meinem Fluchtversuch über die Tschechoslowakei in die BRD kam. Es hat leider nicht geklappt, ich wurde vor dem Zaun festgenommen. Ich war dort eine Woche in Gefängnis in der Tschechoslowakei, dann kam ich nach Cottbus bei der Staatssicherheit in U-Haft am Spreeufer 2. Dort war ich ein Vierteljahr. Dann bin ich nach Naumburg gekommen, da war ich nochmal über 6 Monate und wurde dann 1986 freigekauft von der Bundesregierung. […]
Na das ging los in der Lehre, da hat man intensiver darüber nachgedacht, wie ist es und was sagen die eigentlich. Dass es eigentlich ein totaler Gegensatz war.
>>> Museumsleiterin Dr. Corinna Junker fragt: „War das jugendlicher Leichtsinn oder ich weiß nicht. Ich versuche es mir irgendwie vorzustellen.“ <<<
„Nee, das war kein Jugendlicher Leichtsinn. Wir haben es uns ja überlegt. Wir waren ja mehrere Leute. Die Namen will ich jetzt nicht nennen. Wir sind dort damals zur Polizei hingegangen und haben gesagt: „Wir wollen einen Ausreiseantrag nach West-Berlin stellen.“ Na dann waren die erstmal verdutzt.
Ich habe im ersten Moment nicht an die Familie gedacht. Ich war ja nicht schuld, sondern das System war schuld, wenn es da Repressalien gab. Insbesondere die SED und die Staatsicherheit. Das ganze System war daran schuld und sie wollten mir ja auch immer Gewissensbisse einreden, aber konnten sie nicht. Und da ich mit 18 einen Ausreiseantrag gestellt habe, mit den nötigen Repressalien, die dort waren.
Ich hatte dann einige Monate keine Arbeit gehabt, aber habe dann von meinem gesparten Geld gelebt. Und bin dann einfach mal von der Kriminalpolizei auf der Straße angehalten worden, und die fragten, wo ich jetzt arbeite. Und konnte ich sagen, dass ich noch keine Arbeit habe. Sie sagten dann, ich soll meine Sachen packen und ab in Richtung Gefängnis. Aber da bekommt man schon große Ängste. Wenn man auf der Straße angesprochen wird. Die um die Ecke einfach kommt, und weiß, dass ich es bin. […]
Ich bin dann mit einem Bekannten von mir, der zu Besuch gewesen war, Richtung Bahnhof gegangen. Er wollte dann weiterfahren und wir haben dann in der Mitropa etwas gegessen. Ich hatte noch einen Rucksack dabei, weil ich in Lübben noch zu einer Party wollte. Und dann standen da auf einmal zweie von der Kripo und die kamen zielstrebig auf unseren Tisch zu. Zur rechten und zur linken Seite: „Mario, komm mit!“, und da habe ich mich selbst gefragt, woher wissen die, dass ich auf dem Bahnhof bin in der Mitropa. Und ich tippe mal, dass da einer von den Nachbarn als IM gearbeitet hat, der kurz darauf einen Anruf gemacht hat: „Die gehen jetzt Richtung Bahnhof“. Das sind kleine Anekdoten von den Repressalien. Das waren so die ersten Sachen, wo ich mich bestärkt habe mit meinem Bestreben auszuwandern oder auszureisen. Und dann 1985 halt ging es gar nicht mehr, also kam ich gar nicht mehr mit den politischen Verhältnissen zurecht, und dann habe ich bloß noch den Entschluss gefasst, dass ich jetzt rüber muss.
Ja, ich dachte, es wäre leichter von der Tschechoslowakei den Versuch zu machen. Und man geht ja immer davon aus, dass es klappen tut. Man geht ja nicht davon aus, das klappt nicht und dann kann man inhaftiert werden oder schlimmsten Fall erschossen werden an der Grenze.
Vorbereitet habe ich mich eigentlich gar nicht. Ich bin eigentlich erstmal nach Prag gefahren. Da habe ich dann zwei Tage verbracht, wollte mich ein bisschen erholen. Und dann habe ich mir das erst mal auf einer Karte angeschaut am Bahnhof in Prag und hab gedacht, auch das ist eine schöne Ecke. Das hieß der Ort „Babylon“. Und ja da bin ich dann mit dem Zug und getrampt dorthin und musste dann über zwei Berge drüber, bis ich zum Zaun kam. Um die Ecke kamen dann zwei Armisten von der Tschechoslowakei mit dem Hund.
Ich stand vor dem Zaun und habe mir den genau angeschaut. Es war eigentlich nur ein Maschendraht Zaun mit oben Stacheldraht. Oben war da noch ein Signaldraht, der da entlangging. Wenn man den berührt hat, wurde irgendwo bei dem Armeegelände … gab es dann einen Alarm und dann wussten sie: da will jemand flüchten oder rüber. Und dann war noch ein bis anderthalb Meter ein Kiesbett gewesen und dahinter war nochmal Stacheldraht und Maschendrahtzaun. Das habe ich mir genau angeschaut, wie man dort rüber könnte und dann schaute ich einmal nach rechts, einmal nach links, und links kamen sie dann um die Ecke herum. Ja, und dann haben sie etwas zum Hund gesagt, „eta lump“, und der wurde losgelassen. Die haben ganz schnell die Kalaschnikow durchgezogen und dann wurde man ganz schnell ruhig. Und stehen. Möchte nicht nochmal erleben sowas. Wenn zwei Kalaschnikows durchgeladen werden und der Hund wird auf einen draufgehetzt. Dann wurde ich gefragt, ob ich alleine wäre. Habe ich natürlich bejaht. Ich war ja auch alleine. Das haben sie aber nicht ganz geglaubt und dann kam eine LKW-Ladung mit Armeeangehörigen. Und die haben nochmal den einen Berg durchsucht. Ich musste dann auf dem Bauch liegen mit Handschellen auf dem Rücken auf dem Boden und jeder, der vorbei kam, konnte mal zutreten. Dann wurde ich dort erstmal in eine Kaserne hingebracht und dort war dann ein Staatsicherheitsoffizier der Tschechoslowakei. Und er hat das erste Verhör durchgenommen.
Und nach einer Woche kam ich dann zurück in die DDR. Da kam immer ein Flieger an. Aus Prag, Budapest oder sonst wo her von der Staatssicherheit. Und der hat die Leute eingesammelt, kann man sagen. Und im Flieger waren zwei Leute, die flüchten wollten, und 10 Leuten von der Staatssicherheit waren dabei. Und das war ein großer Flieger eigentlich. Ja, und dann kam noch dieser Spruch: „Bei Fluchtversuch wird geschossen“. Ja, wohin sollte ich flüchten. Ja und wo ich dann nach Naumburg kam, nach der U-Haft, nach dem Vierteljahr, habe ich gleich nochmal einen Ausreiseantrag gestellt, nochmal unterstrichen: „ich möchte rüber“. Und dort war ich nochmal über 6 Monate inhaftiert. Wir mussten dort arbeiten und diese Arbeit, ja, die hat sonst keiner gemacht. Weil ich war in der Galvanik. Das ist Verchromerei. Da gibt es also 1000e Liter Salzsäure. Und die einzige Belüftung war ein kaputtes Dachfenster gewesen. Alle möglichen Arbeitsschutzrichtlinien wurden da eigentlich verstoßen. Und dadurch habe ich auch meine Nasenschleimhäute verätzt. Wurde also dort physisch und psychisch gefoltert. Erst in U-Haft, und dann auch in Naumburg mit Schlägereien. Ich will nicht weiter darauf eingehen. Aber auch in ISO-Haft wollten sie mich nochmal klein kriegen. Haben sie nicht ganz geschafft.
Ich hatte mir damals den Anwalt Vogel genommen. Das war ein Unterhändler zwischen der DDR und der Bundesregierung. Der hat sich für Leute stark gemacht, die politisch inhaftiert waren. Das heißt, wir wurden freigekauft. Das war für den Arbeiter ungefähr 40.000 und für einen Akademiker ungefähr 70.000 DM, was die DDR bekommen hat von der Bundesregierung. Am frühen Morgen ging die Zellentür auf und dann wurde ich aufgerufen. Aber nicht mit dem Namen. Es gab dort SG mit einer Nummer. SG war der Strafgefangene. Und Sachen packen. Und da hat man sich natürlich sehr gefreut, dass es vielleicht gleich losgehen könnte. Und es war ja teilweise so, die haben ja auch so ne Scheinverlegung gemacht, dass man manchmal in ein anderes Haus oder Etage gekommen ist. Das waren ihre Psycho-Spielchen, die sie gespielt haben. Aber bei mir zum Glück nicht. Dann sind wir nach Karl-Marx-Stadt und dort wurden wir nochmal aufgepäppelt. Es gab Obst, es gab Gemüse, es gab Fleisch zu essen, was vorher nicht so war. Das waren nochmal zwei Wochen. Und dort habe ich nochmal einen Ausreiseantrag gestellt.
Am 14. Mai 1986 bin ich dann übergesiedelt nach Berlin-West. Es ging dann erstmals nach Gießen, dort gab es das bundesweite Aufnahmelager für Politisch-Inhaftierte. Und ja, wir waren alle in dem Bus, die Richtung Gießen gefahren sind. Waren alle sehr happy gewesen. Die Staatsicherheit war noch bis zur Grenze im Bus gewesen. In Herleshausen, der Übergang, sind wir rübergefahren. Dort sind sie ausgestiegen. Und dort hat der Busfahrer gesagt: „Wir sind jetzt in der Bundesrepublik Deutschland“ – und es gab einen mörderischen Aufschrei im Bus. Vor Glück natürlich. Ja, und dann bin ich halt später nach Berlin-West übergesiedelt.
Und für die ganze Zeit jetzt bis zum letzten Jahr konnte ich darüber nicht reden. […]
Ich habe das am nächsten Tag erfahren, als ich die Medien angemacht habe, sprich Fernseher, und ich habe damals in der Nähe von der Bornholmer Brücke gewohnt in Wedding. Und da waren die ersten, wo die Grenzen aufgingen. Und ich hörte das und ich habe es nicht weit gehabt und da habe ich gesehen: Oh, das stimmt ja wirklich, die Mauer ist offen. Und da meinte ich bloß: Oh, jetzt wird es voll. Aber das war richtig so. Das war ein historisches Ereignis, was es so wahrscheinlich nie mehr geben wird. […]
Das erste Mal war 1990. Da habe ich meine Familie besucht, Freunde besucht. Ja, das war erstmals eine große Freude, wo ich hier ankam in Lübben und Familie. Aber wie gesagt gab es da andere Meinung in der Familie, die eben ein anderes Feedback hatten, eben SED. Und wir haben ja nichts getan – nur ein Waldspaziergang gemacht.
Ich war nicht kriminell in dem Sinne halt. Ich wurde als Schwerverbrecher behandelt. Vor allem wenn man eine andere Meinung hat. Ich wollte die DDR nicht stürzen oder sonst was. Und jetzt geben die teilweise zu, die Staatssicherheit: Ja, wir hätten ja mehr reden sollen. Aber jetzt nach 20-30 Jahren, jetzt, mal auf so eine Idee zu kommen, finde ich scheinheilig. Man war ja Staatsfeind gewesen, wenn man ein bisschen andersdenkend war, oder eine andere Meinung hatte, oder auch woanders hinziehen wollte. Da wurden wahrscheinlich in den Gefängnissen Leute, die jetzt Mörder oder Schwerverbrecher waren, wurden nicht so behandelt wie wir. Es gab halt nur eine Meinung in der DDR. Und das war die der SED. Es war ja auch so, dass dort Kinder schon im Kindergarten oder in der Schule indoktriniert wurden, dass Sozialismus das wahre System ist und menschenfreundlich. Mit dem „menschenfreundlich“ bin ich nicht einverstanden, weil ich ja selbst am eigenen Leib erfahren habe, was das bedeutet.
Und sowas sollte es nie wieder geben: irgendwelche Diktaturen. Ob es von der rechten Seite ist oder linken Seite ist. Weil in einer Diktatur hat der einzelne Mensch nichts, beispielsweise, zu sagen, und wenn jemand was sagt, dann kann solch ein Schicksal passieren wie meins oder schlimmer auch. Was die Geschichte auch gezeigt hat.“